Montag, 10. März 2008

Berlin: Revaler Viereck - Gentrification here we come

Artikel von mir erschienen bei indymedia am 10.03.2008 [link zum Artikel] :

Gentrifizierungsprozesse in Berlin am Beispiel des Revaler Vierecks. Ein ehemaliges Bahngelände, das seit 10 Jahren für Soziokultur, Kunst, Sport, Konzerte und Veranstaltungen genutzt wird, ist akut betroffen: Die neue Eigentümerin will die z.T. 150 Jahre alten Industriebauten abreißen lassen, um Wohnungen und ein Fitnesscenter für Einkommensstarke zu bauen...

Werden wir einen Moment lang ernst. Oder besser: halten wir für ein paar Minuten die Zeit an und sehen uns um in unserem Kiez. Friedrichshain-Kreuzberg, dieses Durcheinander aus Arbeitslosen, Studenten, nächtlichem Partyvolk, alteingesessenen Hundehaltern, türkischen Gemüsehändlern und polnischen Punks, Vollkornjüngern, postmarxistischen Autodidakten, urbaner Streetart und schlechten Tags. Ein Bezirk der Mythen, Selbsttäuschungen und Kreativität. Des Miteinander und Nebeneinander. Des Leben und Leben lassens.

Zwischen Kiezlokal und Hinterhoftheater, Trödelladen und Hundeauslaufplatz macht ein Begriff die Runde, der zum neuen Unwort des Jahres avancieren könnte: Gentrifizierung bzw. Gentrification. Unter dem Begriff wird eine Veränderung innenstadtnaher Wohngebiete verstanden: Einerseits meint der Begriff den Prozess der sog „Aufwertung“ eines innenstadtnahen städtebaulichen Bestandes (Modernisierung, Mietpreissteigerung, Umwandlung in Eigentum, Zweckentfremdung) und andererseits die Verdrängung oder der Austausch der alteingesessenen BewohnerInnen und Nutzer ("Pioniere”) und die Ersetzung durch besser gebildete Bevölkerungsgruppen, die in der Regel aufgrund ihrer Berufsposition über höhere Einkommen verfügen.

An der Nahtstelle seiner künstlichen und künstlerischen Teilbezirke liegt an der Warschauer- und Revaler Strasse sowie der Modersohnbrücke das RAW-Gelände, umgeben von Mauern und Bahngleisen. Geschützt vor den Ressentiments und Ängstlichkeiten des gesellschaftlichen Mainstreams hat sich auf dem ehemaligen Bahngelände ein soziales und kulturelles Biotop entwickelt. Viele von denen, die es kennen gelernt haben, haben es auch lieben gelernt.

Die Gemäuer sind zum Teil 140 Jahre alt. Sie tragen halb eingefallene Dächer und unglaubliche Graffitiegemälde. Unter ihnen liegen sich weit verzweigende Bunkeranlagen, voll gelaufen mit Wasser und aus dem Erdreich gewaschene Chemikalien. Weite Teile der Anlage sind kontaminiert mit Ölen, Lacken, Reinigungsmitteln und einem Cocktail chemischer Substanzen aus dem Betrieb des Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW). 1994 wurde es abgewickelt. 1380 Menschen zählte die Belegschaft einst. Das war 1945, als sie die Güterwagen herrichteten, mit denen Lebensmittel in die UdSSR versandt wurden. Unter den Nazis mussten hier Zwangsarbeiter die kriegswichtigen und menschenverachtenden Zielvorgaben der Reichsbahn gewährleisten.

Wenn man heute über das Gelände schlendert, dann verhindert ein Zaun den Zutritt zu weiten Teilen der brachliegenden Flächen und Gebäuden. Gut zehn Prozent des Geländes indes sind zugänglich – und wer neugierig genug ist, findet gleich drei Tore und eine Tür in die Interzone. Denn zwischen verfallener Geschichte und den Touristengruppen auf der Revaler Strasse haben der RAW-tempel und die 5-o GmbH eine handvoll Gebäude in Besitz genommen. Während der RAW-tempel e.V. als Dachorganisation für beinahe 60 sozio-kulturelle Projekte, Vereine, Kleinunternehmer und Initiativen fungiert, setzt die 5-o mit der Skaterhalle, dem Cassiopeia sowie deren Untermieter Kletterkegel stärker auf kulturelle und sportliche Freizeitgestaltung. Mit dem Ambulatorium, der Stenzer-Halle, dem Cassiopeia und dem Cube hat sich eine lokale Club-, Konzert-, Theater- und Kleinkunstszene angesiedelt. 350.000 Besucher sind letztes Jahr gekommen – zum skaten, klettern, tanzen - oder in Proberäume und Studios. Ein Kinderzirkus, eine Varietégruppe, ein Openair-Kino sowie eine der bekanntesten Lesebühnen der Stadt haben sich hier etabliert. Große innerstädtische Festivals wie Fete de la Musique, Karneval der Kulturen, Clubnacht oder Popkomm ziehen tausende Besucher zu den zahlreichen Veranstaltungen des Platzes. Die Getränke sind preiswert, die Eintritte sozial angepasst. Manche sagen Kiezkultur dazu. Doch die Gäste und Mitwirkenden sind zunehmend international.

Dass das kein Widerspruch mehr ist, verdankt der Platz der Globalisierung, von dessen zarter, behutsamer Seite dieser Platz profitiert. Das könnte sich bald ändern.

Ende 2006 wurde die R.E.D. GmbH gegründet. Ein beinahe virtuelles Unternehmen. An der angegebenen Firmenadresse finden sich keine Büroräume oder Klingel. Früher hieß das Briefkastenfirma. Trotzdem ist sie im juristischen Sinne wahrscheinlich real. Die GmbH ist ein Zusammenschluss der isländischen Kapitalgesellschaft Capital North und deutschen Investoren und Planungsgesellschaften, die ein Auge auf das Gelände geworfen haben. Zudem mischen im Umfeld der R.E.D. GmbH auch eine R.E.D. Holding, ihrem Ruf gerecht werdende Berliner Immobilienexperten und ein überforderter Architekt mit im Spiel um die Zukunft des Geländes. Denn die R.E.D. hat das 71.000 m² grosse Areal gekauft. Manche sagen, sie hätten es für einen Spottpreis von der Vorbesitzerin, der VIVICO Real Estate GmbH, erworben. Vom Schnäppchenpreis spricht man in der Größenordnung von 4 oder 5 Millionen Euro. Der ein- oder die andere fragt sich auch, ob beim Verkauf alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Das ist schwierig zu klären – denn die Immobilienfirma VIVICO gehört sich selber gar nicht mehr. Sie ist nahezu geräuschlos für 1,03 Milliarden Euro an die österreichische CA Immo gegangen. Aus Sicht der RAW-Nutzer war sie ohnehin überflüssig.

Zuständig ist nun die R.E.D. Zuständig für was? Es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber – je nachdem ob Mensch die neuen Eigentümer oder die Bestandsnutzer fragt. Herr Wagner und Herr Müller, menschliche Avatare der R.E.D. mit geklont klingenden Namen, behaupten, sie seien zuständig dafür, dass aus dem Areal ein lebendiger Ort wird für Generationen übergreifendes Wohnen in neuen, Energie erzeugenden Wohnhäusern und -türmen, für Shopping im neuen C&A und für Freizeit und Fitness im neuen Aktivcenter an der Modersohnbrücke. Alles neu, alles sauber, alles frisch. Alles klar? Wir reden hier von einem beinahe gänzlichen Totalabriss. Beinahe? Vielleicht. Denn vielleicht könnte ein Kulturverein die vier vor dem Abriss denkmalgeschützen Gebäude an der Revaler Strasse betreiben, in denen der derzeitige Betreiber, der sozio-kulturelle Verein RAW-tempel e.V., in den Augen der R.E.D. seine Existenz fristet. 2012 läuft deren Mietvertrag aus. Dann wird man sehen.

Die derzeitigen Nutzer sehen etwas Anderes. Ihr städtebaulicher Ansatz erhält so viel wie möglich der historisch aufgeladenen Bausubstanz und setzt auf eine sanfte Integration von Neuem. Und er erhält natürlich die langjährigen Nutzer an ihren jetzigen Standorten. Wohin sollte man auch den Spitzbunker versetzen, um die Kletterer zufrieden zu stellen? Wir sind gekommen um zu bleiben, sagen sie. Sie meinen damit: Wir sind Helden.

Der das Gelände teilende Zaun stammt noch von der VIVICO, die einst einen Räumungstitel besaß gegen den RAW-tempel e.V. – und ihn zugunsten von reichlich EU-Fördermitteln in der Schublade liegen ließ. Als sie Jahre später dann doch den Strom abstellen lassen wollte, warfen die Nutzer die Vertreter der damaligen Eigentümer einfach vom Gelände. Denn aus den räumungsbedrohten Zwischennutzern waren inzwischen geduldete, d.h. legale Besitzer des Geländes geworden. Von Beginn an warben sie für eine kleinteilige Entwicklung des Areals und machten gleichzeitig vor, wie das gehen kann. Die Liste der Anfragen für Projekträume, die nicht berücksichtigt werden kann, ist heute vierstellig. Diesseits des Zaunes ist da nicht viel zu machen. Aber jenseits des transparenten und doch eisernen Vorhangs ist viel Platz für Ideen, Anfragen und Anliegen.

Im wilden Süden des Geländes tummeln sich daher seit einem Jahr zahlreiche weitere Menschen und Projekte, die einen (weiteren) Fuß auf das Gelände bekommen wollen. Wegen Ihnen gibt es jetzt einen Wachschutz, der für Recht und Ordnung sorgt. In wenigen Monaten ist es der R.E.D. mit Zuckerbrot und Peitsche gelungen, diese Okkupanten des Open Space in eine Halle an der Modersohnbrücke umzusiedeln, mit günstigen Mieten für zwei Jahre. Vielleicht auch drei. Dieses in das reservatsähnliche Areal abgeschobene Grüppchen wird dort bereits in naher Zukunft Standortmarketing betreiben für das später an fast identischer Stelle geplante Freizeitzentrum. Zugleich kann die R.E.D. die glücklichen Neumieter als Steigbügelhalter dafür benutzen, ihre Bereitschaft zur Förderung von Kleinprojekten aus dem OFF zu demonstrieren. Denn hauptsächlich ging es der Eigentümerin auch und zuerst einmal darum, die unbequemen Aktivisten aus dem Bereich an der Warschauer Strasse zu vertreiben, in dem sich die Betroffenen zuvor breit gemacht hatten. Doch ausgerechnet an dieser Stelle hat die R.E.D. ihren Ansatz- und Ausgangspunkt einer neuen Geländeentwicklung ausgekundschaftet. Die Anzahl derjenigen Nutzer, die ein ernsthaftes Interesse an der städtebaulichen und soziokulturellen Gesamtentwicklung des Geländes hat, dürfte aus diesem Kreis überschaubar bleiben. Nun herrschen hier wieder beinahe ideale Bedingungen für die Pläne der neuen Eigentümerin.

Über die Warschauer Brücke, also an der westlichen Seite des Geländes an einer Mauer entlang, gehen täglich rund 50.000 Menschen. Ein Grund, warum sich mit dem Imbiss auf der Ecke Warschauer-/ Revaler Straße trotz Neonlichtambiente auch so viel Geld verdienen lässt. Das sog. „Oktagon“, das mit Gammelfleisch-freier Dönerproduktion wirbt, ist auch ein Nutzer des Geländes. Ein Nutzer auf Abruf, denn an dieser exponierten Stelle lässt sich natürlich auch für eine neue Eigentümerin richtig viel Geld verdienen – und genau da beginnt spätestens das Interesse der Gesellschafter der R.E.D.

Geld verdienen – das wollen die neuen Herren über das Revaler Viereck natürlich nicht nur an dieser Stelle tun – sondern möglichst auf dem gesamten Gelände. Abriss und Neubau lassen sich kalkulieren, selbst wenn man den kontaminierten Boden gleich mit austauschen muss. Das ist im Grunde nur eine Rechenaufgabe, die im besten Fall auf einer Marktanalyse und der darauf ausgerichteten Projektkalkulation fußt. Der Wert des Geländes bemisst sich in diesem Falle monetär.

Von anderen Werten sprechen die Vertreter des Revaler Fünfeck e.V., der die Nutzergruppen aus RAW-tempel e.V., 5-o-GmbH, 1. Berliner Skateboardverein, Dem Verein zur Überwindung der Schwerkraft, Kletterkegel und weitere auf dem Gelände aktive Initiativen und Strukturen vertritt. Jene Nutzer gestalten in ihren Augen einen open space, sie laden Nachbarn und an Kultur interessierte Berliner sowie Kiezbesucher ein und gestalten schon seit gestern das umfangreichste und vielschichtigste Kulturangebot Friedrichshains. Sie haben Arbeits- und Ausbildungsplätze geschaffen, die ein Stück weit anders funktionieren als in der freien Wirtschaft. Reich wird hier keiner – das verstehen die Macher als Versprechen. Geld ist notwendig für – aber nicht Inhalt dessen, was hier als Wertschöpfung verstanden wird.

Der Kletterturm, so sagen sie, ist die charmanteste Aneignung von Nazibauten, die Berlin zu bieten hat, eine spielerische und kreative Form der Konversion. Der zuvor erwähnte Herr Müller von der R.E.D. sieht das anders. "Der Kegel ist ein Symbol für Faschismus, er sollte weg. Woanders auf dem Gelände könnte dafür die tollste Kletterwand Europas entstehen." Er meint, nicht im Herzen des Geländes, sondern irgendwo am Rand. Oder darüber hinaus. Woanders ist auf jeden Fall da, wo die heutigen Nutzer eben nicht sind – und vorrausichtlich nicht sein wollen.

Am allerersten Tag, an dem die R.E.D. Verfügungsgewalt über das Gelände erhielt, machte die in lokalen Wirkungsmechanismen noch etwas unerfahrene Neueigentümerin erste Lernprozesse durch. Ihr aufmerksamer Wachschutz hatte eine nicht angemeldete Party auf dem gesperrten Geländeteil identifiziert. Ein Anruf bei der Polizei - und schon stand Minuten später eine ganze Kolonne von Mannschaftswagen vor dem Tor. Als der Vertreter der R.E.D. die Räumung des Geländes verlangte, lehnte der Einsatzleiter gelassen ab. Auf dem Gelände sind keine Räumungen notwendig. Auf die Frage, wie denn bitteschön die Menschen davon abgehalten werden sollten, in die gesperrten Bereiche vorzudringen, empfahl man einen soliden Palisadenzaun. Ein Anruf beim Investor ergab, dass dafür kein Geld vorgesehen war. Nun hat man die eigenwilligen Neunutzer vertragsgebunden umgesiedelt. Inklusive der Vereinbarung, man werde sich nicht gegen die Entwicklungspläne der R.E.D. stellen und bei Nichtverlängerung des Mietverhältnisses still und friedlich seine Sachen packen. Ob Zwischennutzungsangebot oder Domestizierung kulturevolutionärem Wildwuchs – die Zeit läuft hier bereits zu Gunsten der Interessen der Eigentümerin.

Mit Zwischennutzern ganz anderer Art überraschte die R.E.D., als sie einer Pornofilmproduktion einen Drehtag in den ungesicherten Hallen gestattete. Doch das alte rein-raus-Spiel war wohl nichts weiter als schnell verdientes Geld, das so gut ist wie jedes Andere. Das jedenfalls besagt das kapitalistische Grundgesetz. Es ist indes nicht damit zu rechnen, dass der auf dem Gelände entstandene Film auch jemals im Freiluftkino des Geländes gezeigt wird. Aber wer weiß – vielleicht wird ja auch ein neuer Kinobetreiber gefunden?

Der vorerst letzte Einfall besteht in einer Studie zum Nutzungsprofil des RAW-tempel e.V., die die R.E.D. für ihre isländischen Kapitalgeber anfertigen lassen will. Dazu möchte sie mit den derzeitigen Projekten unter dem Dach des RAW-tempels Interviews führen. Doch diese lässt das kalt. Kein Interesse. Auch wenn sich die Interviewer in Begleitung des R.E.D.-Wachschutzes in die Gebäude wagen, nimmt die Bereitschaft zur Teilnahme an Befragungen nicht zu. Plump verlangten die R.E.D.Vertreter nach soviel Ablehnung die Adressen der Projektpartner, was mit Hinweis auf Verletzung des Datenschutzes verweigert wurde. Fortsetzung folgt vermutlich.

Als Berlin Hauptstadt wurde, zogen es zahlreiche von Bonn nach Berlin nachrückende Staatsdiener vor, statt in der hektischen Metropole mit Lärm und schlechter Luft im Berliner Speckgürtel ein Eigenheim zu errichten, wo Gründstücke billig waren und die Landschaft auf absehbare Zeit grün bleiben würde. Nur hier und da ein kleiner Ort – oder Bauernhof. Als sie zum ersten Mal morgens um fünf durch das Geschrei des Hahnes vom Nachbarhof geweckt wurden, gingen sie vor Gericht. Ab wann darf der Hahn schreien? Darf er überhaupt?

Ähnliche Szenarien sind auch für das RAW-Gelände vorstellbar. Wenn vieles nach dem Plan der R.E.D. laufen würde – und für sie noch einige unvorhersehbare Glücksfälle einträfen, würden in Zukunft alte und junge Menschen mit Kindern und Hauskatzen in die energieeffizienten Neubauten einziehen. Die kleinen Grünflächen vor den sechsgeschossigen Wohnblocks und 24-geschossigen Wohntürmen werden dann vielleicht in Mieter- oder Eigentümerinitiative gepflegt, hineinkackende Hunde von zugekifften Punks werden dann vielleicht erschossen. Die Konzertbesucher der Stenzer-Halle des RAWs müssen ab 22 Uhr die Band in Zimmerlautstärke weiterhören und werden bei Verlassen der Veranstaltung durch den wieder in Betrieb genommenen unterirdischen Fluchttunnel direkt zur Revaler Strasse geführt. Denn die Kleinen von Familie A müssen morgen wieder in die Kita und um halb neun ist die erste Besprechung in der Firma für Herrn B. Auch Glasscherben auf dem Hof sind zu vermeiden, denn sie könnten den Rettungswagen lahm legen, der hin und wieder wegen der herzschwachen Nachbarin C aufs Gelände rast.

Grünflächen für die Beton-verwöhnten Anwohner der umliegenden Straßen sind ein Luxus, über den sich die Anwohner früher selber Gedanken hätten machen können. Sie hatten ja gar nicht herziehen oder hier geboren werden müssen, wenn sie es grüner bräuchten. Sie könnten zudem auch jederzeit wegziehen - in den Speckgürtel zum Beispiel. Dann würden in der Nachbarschaft Wohnungen frei, die zum Eigentum umgewandelt (direkt bei den schicken Bars und Restaurants der Simon-Dach-Straße) ganz gute Rendite abwerfen könnten. Denn – seien wir ehrlich – ein Park auf dem Gelände bedeutet verlorenes Kapital. Totes Investitionsland sozusagen.

In einer anderen Wirklichkeit ist das ein wertvoller Ort des Miteinanders und der Erholung. Ein lebendiger und fruchtbarer Ort, wo sich alle begegnen können – Generationen übergreifend. Es könnte nicht nur die Lunge des Platzes sondern des Kiezes sein. Was wäre uns ein solcher Ort wert?

Was noch auffällt beim Thema tausche-alt-gegen-neu: Fitness muss Mensch ja nicht mit Skateboard fahren, Yoga, Akrobatik oder Klettern assoziieren. Fitness umschließt auch Fitnessstudios und Minigolf. Beispielsweise in einem neuen Fitness- und Freizeitcenter an der Modersohnbrücke. Die besondere Variante des Schwarzlicht-Minigolf der am zukünftigen Standort derzeit aktiven Gruppe „Sinneswandeln“ könnte dabei auch für alternde LSD-Jünger und (Be-) Sucher der Schlüssel sein, wie die psychedelische Autobiografie in die Konventionalität der späteren Jahre gerettet werden kann. Das Peter Pan Syndrom der sinneswandelnden Schwarzlichtkinder und ihre Idee der Minigolfanlage kommen dem neuen Eigentümer daher nicht zwangsweise ungelegen. Es gibt vielleicht wirklich eine Vermarktungschance für so etwas.

Vor kurzem traf sich zum ersten Mal eine Arbeitsgruppe aus Lokalpolitikern, Eigentümern und Nutzern, sowie dem Ideenaufruf, einer Initiative die seit Beginn der sozio-kulturellen Nutzung des RAW-Geländes Entwicklungs- und Projektsideen für das Gelände sammelt, eine Anwohnerbeteiligung organisiert und als integratives Scharnier zwischen den verschiedenen Parteien fungiert. Die R.E.D. indes fühlt sich durch das Wirken der Initiative gestört und möchte sie aus der Diskussion um die Zukunft des Geländes verdrängen. Andere sollen das besser machen. Besser meint hier wahrscheinlich: in ihrem Sinne gestaltend.

Vielleicht haben sie dabei Herrn Tragsdorf im Sinn, der früher schon für die bezirksamtliche Betreuung der Gewerbetreibenden der Warschauer Strasse zuständig war. Außerdem organisierte er das Büro für Wirtschafts- und Projektberatung (BWP – später dann BIS Stadtteilmanagement GmbH). Tragsdorf hat sich insbesondere im Friedrichshain schon einen einschlägigen Ruf erworben. Indiymedia.de veröffentlichte im Dezember 2007 einen langen Bericht über ihn, der zu dem Schluss kommt:

Man kann ihm kaum vorwerfen, die ökonomische Aufwertung der Kieze schlecht zu betreiben. Vielmehr hat er die Lücken im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg genutzt, um sich, seine Ideen und Konzepte von einer konsumistisch orientierten Stadtentwicklung umzusetzen und damit auch noch reich zu werden. Doch wie ein Besessener will er […] den Luxus-Gewerbetreibenden immer neuere und schickere Quartiere anbieten. Wenn die Wohnbevölkerung sich gegen diese Umkremplung ihrer gewachsenen bezirklichen Struktur wehrt, die frisch sanierten Häuser nicht zahlen will oder kann, dann muss nach Tragsdorfs Ideologie halt die Bevölkerung ausgetauscht werden. Und genau das macht er in den letzten Jahren mit den linken Hausprojekten Friedrichshain. Jetzt soll die Liebig34 dran sein – doch so einfach wird das nicht!

Um einen Fuß auf das Gelände zu bekommen, hat der ehemalige Wirtschaftsstadtrat und Quartiersmanager vom Boxhagener Platz nun die Halle 40 auf dem Gelände gemietet – und einen Flohmarktbetreiber gewonnen, der dort seit Anfang Februar auf Händler und Kundschaft hofft. Eigene Toiletten gibt es nicht, Strom und Parkplätze auch nicht. Was Tragsdorf genau will ist unklar. Klar ist: er will mitreden. Dabei könnte er sich ggf. an seine eigenen Worte zur Attraktivität des Kiezes an der Warschauer Strasse erinnern: „Insbesondere die kreativen Branchen schätzen das Flair der alten Industriearchitektur“ erklärte er einst in seiner damaligen Funktion Wirtschafts- und Projektberaters.

Aber hier und heute geht es der R.E.D. und ihren Erfüllungsgehilfen nicht um kreatives Wirtschaften, sondern um schnödes Wohnen und Shoppen. Und außerdem, weiß Tragsdorf,

wird die zukünftige Entwicklung von denen bestimmt, die hier ihren Arbeitsplatz haben, denn aus der [bestehenden] Bevölkerungsstruktur kann sie nicht kommen, da fehlt die Kaufkraft.

In besagter Arbeitsgruppe sollen die Interessen „auf gleicher Augenhöhe“ verhandelt werden. Das dürfte schwierig werden, denn hier trifft internationales Kapital auf geldarme Alternativwirtschaft. Kapitalverwertungsinteressen treffen auf soziokulturelle Wertschöpfungsgebilde. Die Kernkompetenzen sind recht ungleich gelagert. Was dabei herauskommt, kann nicht bedeuten: ein bisschen Kapitalisierung. Es kann auch nicht Kreativität light bedeuten oder Rock’n’Roll auf Zimmerlautstärke. Es kann nur zwei Wege geben: Friedliche, intelligent organisierte Koexistenz von Sphären oder Verdrängung. Bis dato spricht die R.E.D. davon, das Gelände mit den derzeitigen Nutzern gemeinsam zu entwickeln. Bis dato hat sie gegenüber den Nutzern aus VIVICO-Zeiten (und früher) indes ausschließlich Mechanismen der Verdrängung angewandt. Temporäre Zwischennutzung zum eigenen Vorteil inklusive.

Der städtebauliche Entwurf zur Geländeentwicklung und –nutzung des Architekten Volkmann, den dieser mit den derzeitigen NutzerInnen entworfen hat, sieht behutsamen Neubau von Wohnungen bei gleichzeitiger Beibehaltung der gewachsenen Nutzungsstrukturen sowie den Erhalt historischer Bausubstanz und einer großen Grün- bzw. Parkfläche vor. So etwas hat auch Vorteile. „Wir weisen 110.000 Quadratmeter nutzbare Flächen aus, damit sollte man doch eine ordentliche Rendite erwirtschaften können“, sagt Volkmann. Er meint damit auch, dass nicht an alle Teilflächen Ertragserwartungen gestellt werden.

Die Mitglieder des Revaler Fünfecks würden ihre Flächen gerne kaufen. Eine entsprechende Anfrage hat die VIVICO mit dem Hinweis, man möge sich doch an die neuen Eigentümer wenden, abgelehnt. Neben gemeinschaftlichem – beispielsweise genossenschaftlichem – oder individuellem Eigentum der Mitglieder kommt möglicherweise auch ein Stiftungsmodell in Frage, indem einerseits Grundstücke und Gebäude, andererseits Investitionen und Eigenleistungen eingebracht würden. Kuratorium, Stiftungsrat und beteiligte Akteure würden sich dann einmal im Jahr zu Kaffee, Sekt und Schnittchen treffen, darüber hinaus gehende Verabredungen blieben auszuloten.

Als am vergangenen Mittwoch die R.E.D. ihre Planungen auf einer öffentlichen Sitzung des Stadtplanungsausschusses der BVV Friedrichshain-Kreuzbergs präsentierte, waren die Anwohner und Nutzer wenig begeistert. Im dämmerigen Neonlicht des ehemaligen Kultursaals, dessen Kellergeschoss bis zum Treppenabsatz mit einem brackigen Gemisch auf Wasserbasis vollgelaufen ist, gab es jenen unangenehmen Moment, an dem die Präsentation zu Ende war und sich partout keine Zustimmung einstellen wollte. Niemand im Saal brachte dem, was da kommen soll, Sympathien entgegen, auch nicht die VertreterInnen der anwesenden Parteien (Grüne/ SPD/ die Linke). Die Grünen-Politikerin Kätzel bringt es auf den Punkt: „Einen offenen oder schleichenden Prozess der Gentrifizierung soll es hier nicht geben“, sagt sie. Und erntet damit den größten Applaus des Abends. Der Ausschussvorsitzende, Herr Pempel (die Linke) sowie der Sprecher der SPD, Herr Gomagias, stärken den Bestandsnutzern den Rücken. Die Pioniere, so sagen sie, müssen langfristig an ihren derzeitigen Standorten bleiben können. Warum, fragen sie, sollte eine Skaterhalle an anderer Stelle entstehen, wenn die bestehende europaweite Bekanntheit genießt? Warum sollte der Spitzbunker abgerissen werden – nur um an anderer Stelle eine Kletterwand zu errichten?

Ein nicht unerheblicher Aspekt dürfte auch dem Thema Arbeit, Beschäftigung und Ausbildung zufallen, denn auf dem Gelände wurden mittlerweile 130 Arbeitsplätze und auch eine handvoll Ausbildungsplätze geschaffen. Eine kleine Binnenwirtschaft ist dabei entstanden, von der vor allem finanziell Schwache profitieren. Der Verein RAW-tempel e.V. hat zudem seit einigen Jahren auch eine Trägerschaft für Maßnahmen der Arbeitsförderung übernommen. Strukturen, die der Kiez mehr als dringend braucht. Die Alternative: Verdrängung der jetzigen Klientel durch Aufwertung und Austausch durch einkommens- und konsumstarke Zielgruppen. Eine gesellschaftspolitische Bankrotterklärung, von der die derzeitigen Nutzer hoffen, dass sie für das RAW-Gelände im grün-rot-rotem Friedrichshain als Alternative nicht zur Diskussion steht.

Doch wie schon bei den zu Beginn erwähnten Fällen in der Vergangenheit, sind viele Alternativansätze, ausgelöst vom Einbruch des Kapitals in den finanziell armen – doch sonst sehr reichen Bezirk, akut bedroht. Wenn wir nun die Uhren wieder weiter laufen lassen und heraustreten aus dem zeitlichen Vakuum, dann kann Mensch die einschneidenden Veränderungen sehen, die den Bezirk noch viel stärker umkrempeln werden, als in den letzten 15 Jahren. Die Anschutz-O2-World-Universum-Hyperraum-Arena beispielsweise wird dann nicht mehr sichtbar sein zwischen den gigantischen Stahl- und Glaskolossen der Kapitalverwertungsmaschine rechts und links des neuen Spreeufers.

Kapital verdrängt Kreativität - davon kann der Bezirk wahrlich ein Lied singen. Oder gleich mehrere. Alternativkulturen wie York59, Köpi, Spreeufer-Kulturen, Rigaer Strasse, Lohmühle, Schwarzer Kanal oder das RAW-Gelände – all jene Orte sind ins lodernde Auge der Kapitalverwertung geraten. Ob für windige Immobilien-Spekulanten, anonyme Kapitalströme aus China und Südkorea oder den us-amerikanischen Milliardär Anschutz: Die Inseln und Zonen gelebter Alternativen, Gegenentwürfe und Experimente versprechen die höchsten Gewinnmargen. Risikokapital oder Futures – hier wird um hohe Einsätze gespielt. Auch das verdanken wir der Globalisierung. Wer hätte gedacht, das chinesische Banken Teile von Friedrichshain, Mitte und Kreuzberg kaufen – wo China doch nach wie vor Zuwendungen aus deutscher Entwicklungshilfe erhält… Unklar.

Ein Spaziergang durch das Anschutz-Areal gegenüber von Universal – quasi gleich östlich anschließend an das Areal der O2-Arena – führt heute durch einen monofunktional angelegten Ort. Zum Leben, zur Freitzeitgestaltung und zum Wohnen vollkommen ungeeignet, hat sich das Quartier zum ausschließlichen Standort für kleine Unternehmen gewandelt. So wie Monokulturen die originäre Flora und Fauna eines Ortes verdrängen, so seelenlos und abweisend wirkt das Gelände auf die privaten Seiten des Lebens. Nach Überstunden und Feierabend setzen sich hier die Angestellten und Freelancer in ihre Autos und suchen das Weite. Wenn nachts hier und da doch noch irgendwo ein Fenster erleuchtet ist, dann nicht aus Schlaflosigkeit. Es bescheint auch keine geselligen Runden oder die Kunst junger und alter Meister – sondern gibt höchstens den gelangweilten Objektschützern das Gefühl, nicht ganz alleine bei ihren einsamen Runden durch den abgeschlossenen Subraum zu sein. Solche Orte, recht verstanden, darf es geben. Es gibt auch Menschen, die damit zufrieden sind. Aber wohl nicht auf dem RAW-Gelände.