Mittwoch, 9. September 2009

Beat - Interview 09/2009

Interview mit Raimund Reintjes, Netaudio Festival Berlin (09/09/2009)

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Beat / Vielen Lesern wird das Netaudio Festival in Berlin noch kein Begriff sein, trotzdem findet es nach 2007 bereits zum zweiten Mal statt. Was hat sich in Sachen Akzeptanz einer ehemals doch recht überschaubaren Szene in der Zwischenzeit getan?

Raimund / Wenn man es ganz genau nimmt, findet das Netaudio Festival sogar schon zum fünften Mal statt, nur eben zum zweiten Mal in Berlin. Wir hatten auch schon zwei Festivals in London und eins in Bern. Dieses Jahr gab es eine überwältigende Resonanz - sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Netaudio-Szene. Wir werden für dieses Festival beispielsweise vom Berliner Senat durch seinen Hauptstadtkulturfonds unterstützt, den wir überzeugen konnten, dass die Netaudio-spezifische Dynamik einige sehr interessante Ansätze bereit hält, die Spielregeln im Musikbusiness wieder auf die Füße zu stellen. Die entfremdete Beziehung zwischen dem Künstler, der Musik und dem Hörer wurde ja zuvor fast ausschließlich in den Kategorien Produzent, Produkt und Konsument gedacht. Dass wir zurückkehren müssen zur Seele, zum Herzschlag und zum Wesen der Musik wird mittlerweile auch medial breit diskutiert. Das spüren wir auch sehr deutlich. Unsere Presseresonanz ist enorm - gemessen an dem Zustand vor zwei Jahren. Netaudio ist in Berlin mittlerweile ein sehr positiv besetztes Thema.

Beat / Zwar hat die Netaudio-Bewegung zum Beispiel mit Julia Kotowski eigene kleine Stars entwickelt, die sogar auch in den Massenmedien Widerhall finden, umgekehrt scheint es noch nicht allzu viele Anknüpfpunkte zu geben .

Raimund / Nun, Anknüpfungspunkte sehen wir schon richtig viele - aber wenn Eure Frage darauf abzielt, dass bekannte Namen in den kostenfreien Netlabel-Bereich "überwechseln", dann habt ihr sicher Recht. Außer um ein paar Promo-Tracks zur Verfügung zu stellen gibt es auch wenige Gründe, warum schon sehr bekannte Künstler dieses tun sollten. Andererseits ist Netaudio doch auch mehr als kostenfreie Netlabel-Musik unter CC-Lizenz. Netaudio bezieht sich ja beispielsweise auch auf netzspezifische Produktionsprozesse oder Distribution. Ein Beispiel: Im Jahr 2002 begannen die Einstürzenden Neubauten ihre Arbeit zu einem neuen Album ohne den Rückhalt einer Plattenfirma, da ihr Label Mute an EMI verkauft wurde und EMI den Vertrag nicht fortsetzte. Für die neue Platte vertraute die Band stattdessen auf ihr Internetprojekt. Über 2000 Fans (auch Supporter genannt) hatten sich auf ihrer Website eingetragen und die Produktion des neuen Albums unterstützt, indem sie 35 Dollar überwiesen. Dafür bekamen sie später eine CD - das Supporter's Album #1. Daneben erhielten sie die Möglichkeit, via Internet der Band bei den Proben zuzusehen und über Chat direkt Fragen und Vorschläge an die Band zu richten. Auch andere Künstler, wie etwa das Techno-Urgestein Tanith, öffnen sich mittlerweile dem Netaudio - ohne ihre sonstigen musikspezifischen Einnahmequellen auszutrocknen. Netaudio ist einfach eine zusätzliche Ebene im Spiel - und sicher nicht für jeden Superstar so attraktiv, dass er schlaflose Nächte bekommt, nur weil er noch kein Net-Release hat. Man muss auch sehen, dass Netaudio nicht als Allheilmittel für alle entfremdeten Zustände im Musikzirkus kommuniziert wird.

Beat / Einige wichtige Label wie One Bit Wonder haben hingegen ihre Pforten geschlossen oder haben - wie im Fall von Stadtgruen - deutlich weniger Output als noch vor einigen Monaten. Wächst eurer Ansicht nach genügend Substanz nach, oder ist der erste Pioniergeist bereits erloschen?

Raimund / Die erste Pionierphase, in der alle hemmungslos euphorisiert die neue Heilsbotschaft vom Netaudio gepredigt haben, ist eindeutig zu Ende. Die Szene professionalisiert sich. Das bedeutet auch, dass der Elan mancher Pioniere erlahmt ist und sie wieder mehr Zeit für Freundin, Zierfische oder ihr schon 15 Semester dauerndes Grundstudium aufwenden. Andere wiederum, wie Thinner, Instabil, Jahtari, Pentagonik und zahlreiche weitere Netlabels fangen an, Musik auch kostenpflichtig anzubieten bzw. Bezahlmodelle zu entwickeln. Das halten wir für einen sehr wesentlichen Schritt. Denn es ist doch zu schade, wenn die jahrelang aufgebauten Künstler mit ihrem einsetzenden Erfolg etwa bei Bookinggagen oder in punkto Anfragen von kostenpflichtig veröffentlichenden Labeln zu diesen abwandern. Wenn also andere mit der oft jahrelangen Promoarbeit Geld verdienen. Im Gegenteil wäre es doch schön, wenn das auch in der Familie bleiben könnte. Andererseits ist der Trend, ein Netlabel aufzumachen, nach wie vor ungebremst vorhanden. Um den substanziellen Nachwuchs machen wir uns wirklich gar keine Sorgen... Mittlerweile kann man ja auch, wie etwa auf Festivals wie dem unseren, von erfahrenen Hasen jede Menge Tipps und Hinweise bekommen, wo die Fallstricke und Stolperstellen im Betrieb eines Netlabels verborgen liegen. Dieser Knowhow-Transfer ist Teil der sich professionalisierenden Szene.

Beat / Mit der "Cologne Commons" gab es im Frühsommer bereits ein recht erfolgreiches Netaudio-Festival in Köln. Verträgt die Szene bereits eine zweite große Veranstaltung innerhalb eines Jahres?

Raimund / Unsere Kölner Freunde haben ja einen etwas anderen Fokus als wir. Sie konzentrieren sich auf die Diskussion um Creative Commons und dann im Wesentlichen auf die mit diesem spannenden Rechtsbaukasten verbundene musikalische Komponente. Das ist ein Teilausschnitt von Netaudio. Unser Konzept ist jedoch deutlich weiter gefasst und wird in diesem Jahr auch sicherlich eine andere Dimension bekommen, als die Cologne Commons. Zudem machen wir unsere Veranstaltung nicht spezifisch nur für die Szene. Wir wollen explizit die Ansätze und Ideen des Netaudio in die Mitte der Musikbranche führen. Wir möchten endlich mit unseren Nachbarn Netlabel-Empfehlungen austauschen. Wir wollen, dass nicht nur Tim Renner sondern auch Dieter Gorny versteht, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man aus bequemen Sesseln in schicken Spreeufer-Büros die Künstlerkartei wie ein Aktienportfolio mit Renditeerwartung hin- und hergeschoben hat. Wir wollen explizit nicht, dass Netaudio in der Abgeschlossenheit einer Szene verbleibt. Eine strukturelle Öffnung passiert unserer Meinung nach gerade von beiden Seiten. Da sind Netaudio-Festivals sehr hilfreich - gerne auch mehr als zwei pro Jahr in Deutschland!

Beat / Ihr könnt auch auf die Erfahrungen anderer Veranstalter in Europa zurückgreifen. Wer steht euch hier zur Seite?

Raimund / Im Wesentlichen unsere Freunde von Netaudio London. Wir wechseln uns seit vier Jahren in der Ausrichtung des Netaudio Festivals ab. Nächstes Jahr wird es wieder ein Festival in London geben. Zudem haben wir gute Kontakte nach Spanien - etwa zu netaudio.es und zum Underground Family Festival (UFF!) in Barcelona. Ein anderer wichtiger Partner ist Nettare, das italienische Netzwerk von Netlabeln, die im vergangenen Jahr ihr erstes Festival organisiert haben. Außerdem sollten wir noch die Clubtransmediale erwähnen, die zwar in Berlin stattfindet, aber einen sehr internationalen Charakter besitzt. Das kleine Fieldrecordings Festival ist ein besonders experimenteller und spannender Partner, den wir dieses Jahr neu hinzu gewonnen haben und der sich mit einigen außergewöhnlichen Programmpunkten in unser diesjähriges Festival einbringen wird. Nächstes Jahr werden von unserer Seite weitere internationale Aktivitäten hinzukommen, die darauf zielen, neue Partner in anderen Ländern aufzubauen.

Beat / Als Motto für das Netaudio Festival Berlin habt ihr euch "East meets West" gewählt. Was steckt dahinter?

Raimund / Naja, Auslöser war natürlich der 20ste Jahrestag der Maueröffnung dieses Jahr. Gerade in Berlin ist das ein Thema. Damals fiel die Grenze zwischen den politischen Blöcken Ost und West. Wir haben das zum Anlass genommen um insbesondere auch die Netaudio-Aktivitäten in den osteuropäischen Ländern sichtbar zu machen. Aber auch aus Istanbul und Casablanca haben wir Künstler eingeladen. Wir hoffen, dass sie alle kommen können. Wenn uns die Botschaften und die Ausländerbehörde keinen Strich durch die Rechnung machen, haben wir Künstler aus Russland, Weißrussland, Ukraine, Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn, Bosnien und Slowenien auf den Bühnen. Außerdem mit Dr. Patryk Galuszka einen polnischen Wissenschaftler, der am Kölner Max-Planck-Institut zu Netlabeln geforscht hat. Als interaktives Projekt - extra für das Festival entworfen - ist in dem Zusammenhang noch die "Berlin Wall of Sound" zu erwähnen: Die Idee ist, Sounds vom gesamten Mauerstreifen aufzunehmen und hochzuladen, so dass eine "Wall of Sound" entsteht. Jeder, der Lust und ein Aufnahmegerät hat, ist aufgerufen, sich zu beteiligen: www.netaudioberlin.de/berlin-wall-of-sound

Beat / Auch der Veranstaltungsort ist an einem recht historischen Ort.

Raimund / Das Festival findet in der "Maria am Ostbahnhof" statt, ein ehemaliges Lagerhaus auf dem früheren Todesstreifen. Um die Ecke steht mit der Eastside Gallery das längste noch erhaltene Reststück der Mauer. Die Maria hat zudem auch ihre eigene Historie in punkto Festivals (etwa die jährliche Clubtransmediale oder verschiedene Schlagstrom-Festivals) - wie auch als Veranstaltungsort: Der Club hieß zuvor "Deli" und war in der Berliner Feierszene legendär. Hier gab es gigantische Techno- und Trance Raves mit einer riesigen Feuerstelle in der Halle! Das ist mehr als zehn Jahre oder so her. Wer das miterlebt hat, wird dies sein Leben lang nicht vergessen...

Beat / Was bietet das Netaudio Festival Musikern, die sich für die Möglichkeiten alternativer Musikdistribution interessieren?

Raimund / Wir haben ein umfangreiches Tagesprogramm mit vielen Vorträgen, Workshops und Diskussionen organisiert. Es werden eine ganze Reihe Experten anwesend sein, die man alle kennen lernen kann! Mit Whatpeopleplay ist zudem ein digitaler Distributor als Partner mit an Board, der auch auf unserer "Netaudio Fair" präsent ist. Hier werden sich zudem und hauptsächlich etwa 40 Netlabels aus ganz Europa präsentieren. Wer Kontakte zu einer Auswahl an erstklassigen Netlabels sucht, sollte unbedingt vorbeikommen. Unser Tagesprogramm ist wie immer vollständig kostenfrei!

Beat / Und wenn ich einfach nur gern Musik höre, was erwartet mich dann?

Raimund / Auf den Punkt gebracht: Acht Stages verteilt auf insgesamt drei Nächte - mit rund 100 Künstlern, Bands und Projekten: von den elektronischen Spielarten des Techno, House und Minimal über Dubstep und Drum'n'Bass, Hip Hop, NuJazz, TripHop, Dub, Techdub, 8Bit - bis hin zu Pop und experimentellen Sounds. Nur für die Spielarten der Rockmusik ist Berlin wohl nicht die geeignete Stadt. Es hat sich schlicht niemand gefunden, der das machen wollte und Ahnung hatte... Das umfangreiche Lineup, das auch noch durch zahlreiche Showcases im Tagesprogramm ergänzt wird, kann man am besten auf der Website ( www.netaudioberlin.de ) nachlesen.

Beat / Euer umfangreiches Live-Line-up rekrutiert sich aus recht guten Namen aus der Szene. Wonach habt ihr hier die Auswahl getroffen?

Raimund / Etwa die Hälfte der Künstler kommt über unseren "Call for Entries", d.h. sie haben sich bei uns beworben. Dazu kommt ein guter Anteil an Künstlern, die wir selber unbedingt buchen wollten. Und dann gab es noch Empfehlungen von Partnern und Freunden. Bei uns im Festivalteam kümmern sich verschiedene Personen um die einzelnen Spielarten und Floors. Die Booker hatten unter angemessener Berücksichtigung der Bewerbungen aber weitgehend freie Hand bei der Künstlerauswahl. Wir haben allerdings im Vorfeld auch gezielt Künstler aus Osteuropa ermutigt, sich zu bewerben.

Beat / Gutes Gelingen für das Festival!  (AW)

Webverweise:
www.netaudioberlin.de

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